15. Dezember 2010, Neue Zürcher Zeitung
Zum Helfen geboren
Michael Tomasello über Kooperation und Hilfsbereitschaft unserer Jüngsten
Von Hans-Georg Deggau
Das schmale Bändchen, dessen Haupttext kaum siebzig Seiten umfasst, bietet einen glänzenden Forschungsbericht aus dem Feld der evolutionären Anthropologie. Der Autor, Michael Tomasello, empirischer Psychologe und Primatenforscher, Co-Direktor des Instituts für evolutionäre Anthropologie in Leipzig und Träger des Hegel-Preises der Stadt Stuttgart, stellt seine Forschungen und Thesen, Fragestellungen und empirischen Ansätze vor. Beispielhaft ein zusammenfassender Bericht über einige Experimente: «Kleinkinder im Alter zwischen 14 und 18 Monaten begegnen einem nicht verwandten Erwachsenen. Der Erwachsene steht vor einem kleinen Problem, und die Kleinkinder helfen ihm, es zu lösen. Dabei tun sie alles Mögliche, vom Herbeiholen nicht erreichbarer Gegenstände bis hin zum Öffnen von Schranktüren.» – Man stellt sich vor, wie die Kleinen zum Schrank krabbeln, um die Türe zu öffnen, auf vermisste Gegenstände zeigen oder einen besorgten Gesichtsausdruck erkennen lassen, wenn ein Erwachsener einen anderen schlecht behandelt.
Strafen und Belohnen hilft nicht
Aber warum ist das wichtig? Hinter den Versuchsanordnungen und dem Einsatz der «unzivilisierten» Probanden steckt eine einfache Überlegung: Legen Kinder, die noch nicht einmal sprechen können, altruistische Verhaltensweisen an den Tag, so scheint der Beweis geführt: Der Mensch ist gut. «Kinder sind von Natur aus altruistisch.» – Mit diesem Ergebnis des ersten Kapitels ist in evolutionärer Perspektive nicht viel gewonnen. Es ist noch ein weiter Weg bis zu den sozialen Institutionen, den das zweite Kapitel aufzeigen soll. Zentral ist dabei das Phänomen der geteilten Intentionalität. Anders als Affen sind Menschen in der Lage, einander zu vertrauen und zu kooperieren, gemeinsam Ziele zu verfolgen. Es bildet sich ein Wir-Gefühl, es bilden sich Rechte und Pflichten; die Kooperation wird freilich im Laufe des Heranwachsens «selektiv». Die nötige Koordination und Kommunikation lässt sich bereits bei Kindern im Alter zwischen 14 und 24 Monaten feststellen. Sie entwickeln eine Art arbeitsteiliger Rollenverteilung, gemeinsame Aufmerksamkeit und überindividuelle Perspektiven, die eine gewisse Normativität einschliessen. Die Experimente liefern eine weitere wichtige Erkenntnis: Belohnung und Bestrafung fördern das altruistische Verhalten von Kindern nicht – im Gegenteil: «Intrinsische» Motivationen werden dadurch «extrinsisch» unterlaufen.
Kurze Stellungnahmen von drei Kolleginnen und einem Kollegen Tomasellos aus den USA erweitern die Perspektiven. So thematisiert Joan B. Silk die Rolle des Altruismus und der widersprüchlichen Interessen der Einzelnen. Dass auch Kinder unter 12 Monaten bereits Erfahrungen gemacht und Erwartungen gebildet haben, von denen ihr Mitgefühl abhängt, betont Carol S. Dweck. Eine Entkoppelung von Kooperation und geteilter Intentionalität hält Brian Skyrms für möglich. Elizabeth S. Spelke fragt nach der Abgrenzung von universellen und erworbenen Eigenschaften und betont die Rolle der Sprache.
Die Überlegungen Tomasellos werden damit bereits argumentativ auf den Prüfstand gestellt. Ihre hohe Plausibilität zeigt erst bei genauerem Zusehen Risse. Die Darstellung lässt sich zum guten Teil in Begriffen traditioneller Problemstellungen formulieren. Dazu zählen beispielsweise: die Differenz zwischen Mensch und Tier; die Frage nach dem Wesen des Menschen; die Rolle der Vererbung; das Verhältnis von Phylogenese zu Ontogenese; die Beziehung zwischen innerem Geschehen und äusserem Ausdruck.
Greifen wir exemplarisch zur zuletzt genannten Problematik eine unscheinbare Stelle heraus. Bei einem Experiment mit 18 bis 24 Monate alten Kindern wurden deren Reaktionen beobachtet. Ihr Gesichtsausdruck wurde «von einem unabhängigen Beobachter zuverlässig als <besorgt> codiert». Von dieser Beurteilung hing die Bewertung des Experiments ab. Doch diese Codierung ist nicht so einfach, wie es scheint. Die Frage lautet: Zeigen sich Gefühle direkt im Gesichtsausdruck? Darwin hatte mit seiner 1872 publizierten Studie «Der Ausdruck der Gemütsbewegungen bei dem Menschen und den Tieren» ein ganzes Buch benötigt, um diese Frage zu bejahen. Gegen diese im 20. Jahrhundert von Paul Ekman vielfach forcierte These hat sich Widerspruch erhoben.
Anspruchsvolle Voraussetzungen
Die behauptete kulturelle Invarianz der Bedeutung des Gesichtsausdrucks ist problematisch. Gegen solche Ausdrucksuniversalien ist Verschiedenes einzuwenden: Kinder können schon sehr früh «Gesichter machen»; Gehirnforscher sprechen von frühen zerebralen Prägungen, die sozial determiniert sind; und eine Reflexion auf die Rolle des Beobachters fehlt bei Tomasello ganz. Unbesehen wird davon ausgegangen, dass der Gesichtsausdruck des Kindes nicht als Textur einer arbiträren Sprache zu lesen sei. Vielmehr wird postuliert, dass die Kinder unmittelbar zum Ausdruck bringen, was sie fühlen. Der Beobachter soll die inneren Vorgänge bei den «naturnahen» Probanden unmittelbar verstehen können. Dass auch die «natürlichste» Natur nur kulturell gelesen werden kann, wird nicht berücksichtigt.
Vielleicht kommen auch deswegen die theoretisch anspruchsvollen Voraussetzungen des Experimentaldesigns kaum in den Blick. Welche Prozesse vorsprachlicher Ich-Bildung laufen ab? Wie können einjährige Kinder sich und andere verstehen, sich Vorstellungen über Zeit, Zwecke und Mittel oder Werkzeuge bilden? – Viele Fragen bleiben offen. Insgesamt aber ist da in der Edition Unseld ein anregendes und nachdenklich stimmendes Büchlein erschienen.